Was für ein Zirkus
Vor drei Jahren jonglierte Amira vor Tausenden Menschen im Ausland. Seit der Machtübernahme der Taliban übt sie heimlich in einem Vorgarten in Kabul
Text: Merlin Gröber, Foto: Johanna-Maria Fritz
Wenn Amira* morgens im Garten jongliert, riecht die Luft nach verbranntem Benzin und Kuhdung. Die 18-jährige Zirkusartistin steht in einem roten Samtkleid neben ihren drei Schwestern in einem Vorgarten in der afghanischen Hauptstadt Kabul und wirft brennende Fackeln in die Luft. Die Fackeln fliegen, Amira ruft „Hopp, hopp, hopp!“. Aber nicht zu laut. Zu groß ist die Gefahr, entdeckt zu werden.
Seit der Machtübernahme der Taliban im vergangenen Sommer hat sich Afghanistan verändert. Schülerinnen dürfen nicht mehr die weiterführenden Schulen besuchen, fast die Hälfte der Medien stellte ihre Arbeit ein – und Zirkusveranstaltungen wurden abgesagt. Auf Seilen tanzende und jonglierende Frauen in bunten Kleidern – das passt nicht ins Frauenbild der Taliban.
Das Zirkuskollektiv, in dem Amira und ihre Schwestern übten, löste sich auf. In Kabul trainieren gerade nur noch zehn junge Männer und die Schwestern. Vor der Machtübernahme der Taliban waren sie 1.800 Artist:innen. Während die Männer in einer angemieteten Halle trainieren und zwischendurch Fußball spielen, um nicht aufzufallen, üben die vier Schwestern heimlich zu Hause. Sie haben Angst, verprügelt oder verschleppt zu werden, sollten die Taliban sie erwischen. Bleibt es bei den aktuellen Machtverhältnissen, werden sie in Afghanistan vermutlich nie wieder in einem Zirkus auftreten. Aber die Schwestern üben weiter.
„Ich hasse die Taliban, weil sie zwölf Jahre Training zerstört haben“
Amira steht neben ihrer Schwester und wirft die brennenden Fackeln in die Luft. Bei jedem Wurf zischen die Flammen leise, schwarzer Rauch qualmt. Amira sagt: „Das Training hier reicht nicht aus.“ Sie war die beste Jongleurin des Zirkus, die beste, die ihr Trainer kannte. „Vor drei Jahren stand ich noch in Deutschland auf der Bühne vor Tausenden Zuschauern, in Frankfurt am Main, beim Weihnachtszirkus“, erzählt sie. Wie ihre Schwestern liebt sie den Zirkus, weil sie damit Menschen zum Lachen bringen konnte. „Ich hasse die Taliban, weil sie zwölf Jahre Training zerstört haben“, sagt Amira. Gerade bleibt den Schwestern neben ihrem Vorgarten nur noch ein alter Schuppen, in dem sie verstecken, was ihnen vom Zirkus geblieben ist: abgegriffene Bälle, Keulen, drei Fackeln. Das Trainieren werde immer schwieriger, manchmal streiten sich die Schwestern, immer häufiger käme die Frage: Warum sollen wir weiterüben?
Vom Zirkus hatte ein Cousin den Schwestern erzählt, vor etwa zwölf Jahren. Sie trainierten zweimal täglich in einem Trainingscenter in Kabul. Das bot den Schwestern alles, was sie brauchten: professionelle Trainer, Riesenbälle, Drahtseile, Einräder, Stelzen. Ela, mit 14 Jahren die zweitjüngste der Schwestern, mochte Stelzen besonders gerne, erzählt sie, weil sie damit groß war und alles überblicken konnte. „Das letzte Mal stand ich vor sechs Monaten auf Stelzen.“ Ob sie denkt, dass sie es noch kann, das Gehen auf Stelzen? Ela schüttelt den Kopf. „Wir werden jeden Tag schlechter.“
Eine halbe Stunde Autofahrt vom Garten der Schwestern entfernt halten sich die zehn Jungs des ehemaligen Zirkus fit. Hinter schweren Toren aus Stahlrohren liegt eine Trainingshalle, die Trainer Abdul zweimal die Woche für 90 Minuten mietet. Durch die offenen Fenster dringt der Lärm des Straßenverkehrs, Smog und Rauch füllen den Innenraum, bald auch der Geruch von Schweiß.
Auf dem harten Linoleumboden liegen ähnliche Bälle, Keulen und Kochlöffel wie bei den vier Schwestern, daneben ein Fußball, von dem sich das Leder schält. Die Jungs greifen nach den Bällen, werfen sie in die Luft, hüpfen auf und ab, einer tritt den Ball gegen die Wand. Abdul ruft Kommandos durch den Raum. 1.300 US-Dollar Spenden habe er im Dezember erhalten, erzählt Abdul. 400 seien für das Training übrig. Er wisse nicht, wie es danach weitergeht. Aber den Jungs erzähle er davon nichts.
„Wir müssen üben, damit wir gut in etwas sind, wenn all das hier vorbei ist“
Einer von ihnen ist Sahib. Der 17-Jährige jongliert seit zwei Jahren. Sein Ziel: der beste Jongleur der Welt zu werden. „Ich möchte an internationalen Wettbewerben teilnehmen und der Welt zeigen, dass Afghanistan voller Talente ist“, sagt Samim. Vor der Machtübernahme der Taliban war er jeden Tag im Trainingscenter, übte von sieben Uhr morgens bis vier Uhr nachmittags. „Ich habe hart gearbeitet für meine Träume“, sagt er. All das sei durch die Taliban zerstört worden.
Vor drei Monaten, sagt er, sei er zurück ins alte Trainingscenter, um Equipment zu holen. Auf seinem Smartphone zeigt er Videos von einem weitläufigen Areal, auf dem bunt angemalte Container stehen. Staub liegt auf Geländern, Plakate liegen im Dreck. In Samims Augen sammeln sich Tränen. „Wenn die Taliban an der Macht bleiben, werde ich fliehen“, sagt er. Über Pakistan in die USA oder nach Deutschland gelangen. Dort wolle er weiterjonglieren, bis er irgendwann Weltmeister sei.
Zurück im Garten der Schwestern wirft Liah drei bunte Bälle in die Luft, erst einzeln nacheinander, dann alle gleichzeitig. Die Zwölfjährige ist die jüngste der Schwestern. Ihre Augen blicken geradeaus, nur kurz berühren ihre Hände die Bälle, dann fliegen sie wieder hoch, drehen sich in der Luft. Anders als ihre Schwestern will Liah keine Zirkusartistin werden. „Wenn ich groß bin“, sagt sie, „will ich Astronautin werden. Ich will wissen, was im Weltraum ist.“ Sie glaubt, dass in den Sternen andere Menschen leben, nur Frauen, keine Männer – und die Frauen können fliegen, wohin sie wollen. Und sie dürfen in Zirkussen auftreten. „Ich bin mir sicher, dass ich eines Tages zu den Sternen fliegen werde“, sagt Liah.
Inzwischen ist es hell geworden, die Sonne scheint in den Garten und erwärmt die rissige Erde. Zeit, das Training draußen zu beenden. Die Schwestern packen Bälle und Keulen ein, die Fackeln lehnen dampfend an der Hauswand und kühlen aus. Morgen wollen sie wieder üben, wenn das Wetter passt. „Unsere Zukunft fühlt sich Tag für Tag düsterer an“, sagt Amira. „Aber wir müssen üben, damit wir gut in etwas sind, wenn all das hier vorbei ist.“ Und wer jongliert, denkt nicht an Krieg und Terror.
*Alle Namen geändert