Im Gleitschritt
Kein Gedränge im Lift, keine zu vollen Pisten – stattdessen eine endlos lange Loipe durch den Schwarzwald, auf der auch Langlaufneulinge auf Touren kommen
Text: Merlin Gröber, Foto: Rainer Wälder
"Hab keine Angst vor dem Entenschritt", sagt eine Stimme aus dem Lautsprecher meines Smartphones. Sie gehört Wilfried Pallhuber. In den 1990ern räumte er bei den Langlauf-Weltmeisterschaften knapp ein Dutzend Medaillen ab, sechs Mal war er bei den Olympischen Spielen dabei.
Mit seinen Tipps bereite ich mich auf eine Skilanglauf-Wanderung vor. "Wenn du am Berg nach hinten wegrutscht", fährt Pallhuber in unserem Telefonat fort, "winkele die Ski an und watschel den Hang hoch, wie eine Ente." Immer an die Beinarbeit denken! "Beim Langlaufen machen die Arme nur 30 Prozent der Arbeit, 70 Prozent die Beine. Sonst bist du zu schnell müde und verkrampfst." Ich stehe in meinem Wohnzimmer und übe auf Hausschuhen das Gleiten, ohne Stöcke. Und ohne Schnee. Und so langsam bekomme ich bei der Trockenübung ein Gefühl für die Herausforderung, die mir bevorsteht.
Eine Woche später schlittere ich durch den Schwarzwald, bereit für den Entenschritt. An den Füßen: zwei Meter lange Langlaufski, die an meinen Schuhen hängen, in den Händen ein paar Stöcke, die zu Hause in der Scheune herumstanden. Seit dem frühen Morgen bin ich auf dem Fernskiwanderweg Schonach-Belchen unterwegs, habe Karten studiert und die richtige Fahrtechnik geübt. Die Loipe ist für klassischen Langlauf gespurt. Im Gegensatz zur sportlicheren Skating-Technik im Schlittschuhschritt läuft man bei der klassischen Variante parallel, was dem Wandern am nächsten kommt, weil man einen Schritt vor den anderen setzt.
Die Ski sind länger als Skating-Bretter und haben Schuppen oder Felle im Belag, sogenannte Steigzonen, die verhindern sollen, dass ich nach hinten wegrutsche. Theoretisch. Am ersten Hang versuche ich, meine Ski unter Kontrolle zu bringen. Vergeblich. Die Spur ist vereist und meine Füße rutschen natürlich nach hinten weg. Da hilft nur Pallhubers Entenschritt. Ich nehme die Ski aus der Loipenspur, winkele sie an und watschele den Berg hinauf. Würdevoll sieht anders aus, aber ich komme oben an, schiebe die Bretter wieder in die Spur, wische den Schweiß von der Stirn und laufe weiter durch die Winterwunderwelt.
100 Kilometer, 2800 Höhenmeter, 14 Etappen: Der Fernskiwanderweg Schonach-Belchen, auf dem ich gleite und watschele, ist der längste Skiwanderweg im Schwarzwald. Eine technisch anspruchsvolle Langlaufstrecke, die mehrere bestehende Rundloipen verbindet und von der Gemeinde Schonach bis zum Belchen führt, dem vierthöchsten Gipfel des Schwarzwaldes. Seit 1976 gibt es den Fernskiwanderweg schon. Gelaufen bin ich ihn trotzdem noch nie – obwohl der Startpunkt nur eine gute Stunde nordwestlich meiner Heimat in der Nähe von Konstanz liegt.
Im Winter lockte mich der Schwarzwald bisher nur für Tagesausflüge: Pisten runtersausen, Schlittschuh laufen, Eishockey spielen, ab nach Hause. Mehrtägige Wandertouren mit Langlaufski? Zu langweilig, dachte ich. Außerdem: Wandern, macht man das nicht nur im Sommer? Doch dann kommt dieser vergangene Winter mit überraschend viel Schnee und der Rückbesinnung auf die reizvollen Optionen vor meiner Haustür. Ich tausche Wanderstiefel gegen Skischuhe, setze eine Mütze auf, packe meinen wärmsten Schlafsack, Isomatte und einen kleinen Kocher in den Rucksack. Ohne Corona hätte ich in hübschen Pensionen in den Dörfern übernachten können. Aber so wird die Langlaufpartie zu einem Winterabenteuer. Und das im Schwarzwald.
Wie auf einer langen Wanderung zu Fuß finde ich auch auf den Ski nach wenigen Stunden meinen Laufrhythmus. Sie gleiten über die Loipe, vorbei an Orten, die "Kalte Herberge", "Raben" und "Hirschen" heißen. Mit tiefen Atemzügen sauge ich die Luft ein, kalt und frisch füllt sie die Lungen. Ich rieche das Harz der Bäume, das sich in der Mittagssonne erwärmt, höre den Wind, der durch den Wald fegt. Tannennadeln rieseln auf den Schnee, wie Schokostreusel auf Zuckerguss. Auf den Rundloipen entlang der Strecke treffe ich viele andere Wintersportler. Ein älteres Ehepaar läuft in Tippelschritten durch einen Fichtenwald und grüßt freundlich, als ich mich an ihnen vorbeischiebe. Der Geschwindigkeitswahn anderer enghosiger Langläufer steckt an, ich haue die Stöcke in den Schnee und rausche über die Loipe, immer weiter Richtung Belchen.
An einem der zahlreichen Wanderparkplätze entlang der Strecke bekomme ich Besuch: Meine Mutter stößt dazu, sie will "ein paar Meter mitkommen", wie sie sagt. Das Gute am Langlaufen: Wie Wandern ist es ein sozialer Sport, gemütlich kann man auf der Loipe nebeneinander herfahren – und Pausen machen. "Willst du noch einen Cookie?" Meine Mutter sitzt im Schnee neben mir und streckt mir eine Aludose mit Schokokeksen entgegen. Wir machen Pause unter einer Buche, die Äste knacken leise unter der Last des Winters, Graupel fällt vom Himmel.
An den Bäumen klebt der Frost, wie Watte hängt er an den Stämmen. Schnee schmilzt im Kochtopf, dann dampft Tee in blauen Tassen aus Emaille. Ich beiße ein Stück vom Cookie ab, schmecke die Schokolade, die im Mund zergeht, nehme einen Schluck warmen Tee und seufze. Bald ist Zeit, weiterzufahren. Meine Mutter steht auf und klopft sich die Krümel von der Hose. Mit einem leisen Klicken rasten ihre Skischuhe in die Bindungen. Dann gleiten wir durch den Schnee, der den Waldboden bedeckt. Immer wieder berührt der Fernskiwanderweg Parkplätze und kleine Ortschaften – perfekte Einstieg-und Ausstiegsmöglichkeiten für Cookie-Versorgungstrupps, jene Langläufer, die nur Teile der Strecke zurücklegen möchten oder ein Quartier für die Nacht brauchen.
Es geht auch anders. Gegen Abend, meine Mutter hat sich verabschiedet, führt die Loipe an einer Mulde vorbei, windstill und abgelegen, ein perfekter Ort für ein Biwak. Schnee platt trampeln, Isomatte aufpumpen, Schlafsack auspacken und schon ist mein Nachtlager hergerichtet. Nach dem Essen krieche ich mit Daunenjacke und Wollsocken in den Schlafsack, liege wie eine Presswurst auf der Isomatte. Der Atem wirbelt Dampfwolken auf, die Mütze wärmt den Kopf. In der Ferne ruft ein Kauz, dann ist es still. Nachts, als ich kurz aufwache, rasen Sternschnuppen über den Himmel, der Große Wagen schiebt sich über das Firmament. Vor der Morgendämmerung stehe ich auf, schüttele den Frost vom Schlafsack, packe zusammen und laufe los.
Gerade als die Sonne aufgeht, erreiche ich den Feldberg, mit knapp 1500 Metern der höchste Gipfel des Schwarzwaldes. Unter den Ski tanzt Pulverschnee, vergoldet von den Strahlen der aufgehenden Sonne. An den Wegweisern am Loipenrand klirren Eiszapfen im Wind, der so stark weht, dass er Löcher in die Schneedecke reißt. Der ganze Berg scheint sich zu bewegen. Allein stehe ich in dieser Eiswüste, während die Sonne aufgeht und mich wärmt.
Vom Feldberg führt der Fernskiwanderweg durch alpines Gelände über den Stübenwasen, einen fast baumlosen Bergrücken, weiter zum Notschrei, einer Passhöhe südlich von Freiburg. Am späten Vormittag setze ich mich auf eine Bank, die unter einer Weißtanne steht, packe ein paar Müsliriegel aus, blinzele in die Sonne und staune über diese von Schnee und Eis verzauberte Winterlandschaft, die aussieht wie aus Grimms Märchen. Nachmittags erreiche ich den "Gasthof Belchen-Multen".
Eine letzte Abfahrt, ein kleiner Bach mit einer Brücke, dann bin ich angekommen. Die Schenkel brennen, die Füße kribbeln, die Schultern schmerzen. Dann kommt dieses Glücksgefühl, etwas Großartiges erlebt zu haben. Auch der Muskelkater in den Armen ist neu. Pallhuber hatte recht: Anfänger wie ich arbeiten beim Langlaufen wirklich zu wenig mit den Beinen. An der Haltestelle neben dem Gasthof steht ein Schild, nächster Bus: 17 Uhr. Noch viel Zeit. Ich schnalle meine Ski ab, lehne sie gegen einen Metallpfosten, setze den Rucksack ab und lasse mich in den Schnee fallen. Die Sonne scheint vom Gipfel des Belchen zur Bushaltestelle herüber. Wie der Sonnenuntergang von dort oben wohl aussehen mag? Vermutlich großartig, gilt der Belchen doch als einer der schönsten Gipfel im Schwarzwald.
Ich überlege kurz, dann liegen die Langlaufski im Schnee hinter der Haltestelle. Ein leises Klicken und die Metallstifte der Skischuhe rasten in die Bindung. Einer geht noch. Der Belchen muss sein. Diese Wanderung ist noch nicht zu Ende.
Erschienen in GEO Saison 12/2021