Ronaldo, der heilige Killer
Immer wieder bricht Unheil aus dem Dunkel des Dschungels hervor, in Gestalt eines mörderischen Elefanten. Er dringt in die Ortschaften ein, er tötet Dorfbewohner. Eine Bestie, die erschossen werden muss? Die Menschen vor Ort in Nepal sehen das erstaunlicherweise ganz anders.
Text: Merlin Gröber, Foto: Johanna-Maria Fritz
Balaram Chaudhary bleibt stehen und deutet auf tiefe Spuren im Schlamm. Sie sehen aus, als hätte jemand runde Papierkörbe in den weichen Boden gedrückt. "Das sind Ronaldos Fußspuren", sagt der Dschungelführer. "Wir müssen jetzt sehr vorsichtig sein." Nebel liegt wie ein weißes Tuch über dem Dschungel, die Schatten der Salbäume greifen wie krumme Finger nach uns, die wir auf einem taunassen Trampelpfad durchs Unterholz schleichen. Dann erscheint er: Ronaldo, der Elefantenbulle. Der Killer. Ein grauer Riese mit abgesägten Stoßzähnen und eitriger Wunde am Rücken, dort, wo eigentlich der Schwanz sitzen sollte. Abgebissen von Rivalen.
Ronaldo ist einer von rund 200 wild lebenden Asiatischen Elefanten in Nepal. Manche sagen, er sei benannt nach dem berühmten Fußballspieler Ronaldo, weil er Menschen umherkickt wie Fußbälle. Weder Balaram Chaudhary noch wir wollen vor Ronaldos Füßen landen. Langsam dreht sich der Dschungelführer um und flüstert: "Rennt!"
Über den glitschigen Trampelpfad eilt Chaudhary voraus, Wasser sickert in die Schuhe. Hastiger Schulterblick – Ronaldo schwingt seinen Rüssel hin und her. Er trompetet laut. Er schlackert mit den Ohren, die klatschend an den Seiten seines riesigen Schädels aufschlagen. Die Erde vibriert. Pfauen fliehen ins Unterholz, Axishirsche ducken sich im hohen Gras. Als ein anderer Elefant auftaucht, verliert Ronaldo das Interesse an uns, dreht ab und verschwindet im Dschungel. Noch eine Weile hören wir Äste brechen, dumpfes Schnauben und das Schmatzen der feuchten Erde, die unter jedem Schritt des Elefanten nachgibt. Dann ist es still im Dschungel. Wir atmen schwer.
Die Sonne geht jetzt auf, hier ganz am Rand des Chitwan-Nationalparks im Süden Nepals. Die geschützten Areale und die umliegenden Pufferzonen sind zusammen ungefähr doppelt so groß wie die Fläche Berlins. Rund 70 Säugetierarten jagen, grasen und schleichen in diesem Dschungel, neben Panzernashörnern, Tigern, Leoparden und Lippenbären schätzungsweise 40 bis 60 Elefanten, streng geschützt. Das Problem: Immer wieder verlassen die Tiere den Nationalpark und geraten in Konflikt mit den Bewohnerinnen und Bewohnern der umliegenden Dörfer. In den vergangenen 20 Jahren wurden in Nepal 412 Angriffe von Elefanten registriert, 274 Menschen starben, 138 wurden verletzt, am häufigsten durch Bullen, meist Einzelgänger wie Ronaldo. Allein er hat in den vergangenen elf Jahren 22 Menschen getötet oder verletzt.
Warum aber greifen Elefanten die Menschen an? Wie gehen die Einheimischen mit Killern wie Ronaldo um? Was können wir von ihnen lernen, nun, da Elch und Wolf wieder bei uns heimisch werden, vielleicht auch bald Wisente und Bären, die Menschen ebenfalls gefährlich werden könnten?
Angst wohnt in den Dörfern
Som Dahedm Tamrey sitzt barfuß auf den Treppenstufen seiner Veranda in Badreni, einer Ansammlung strohbedeckter Hütten entlang einer staubigen Straße in der Nähe des Chitwan-Nationalparks. Nur ein Feld, auf dem gelber Senf blüht, und der Fluss Rapti trennen das Heimatdorf des 42-Jährigen vom Dschungel. Der Dschungel ist Ronaldos Reich.
Tamrey breitet einen Teppich auf der Veranda aus und serviert schwarzen Tee, der in Plastikbechern dampft. Dann zeigt er das Porträt eines alten Mannes, der ernst in die Kamera blickt. "Das war mein Vater", sagt Tamrey und streicht mit seinen Fingern über die goldenen Leisten des Bilderrahmens. "Wie jeden Tag ging mein Vater auf der anderen Seite des Flusses an den Waldrand, um die Büffel zu hüten", sagt Tamrey. In der Nähe des Breeding Center, einer staatlichen Aufzuchtstation für Elefanten, traf der Vater auf Ronaldo. Das Tier war gereizt und aggressiv, Angestellte der Aufzuchtstation hatten ihn zuvor mit Steinen beworfen und mit brennenden Fackeln vertrieben, weil er sich den in der Station lebenden Elefantenkühen nähern wollte. Nur 50 Meter vom Eingangstor entfernt stürmte der Elefantenbulle hinter einem Dickicht hervor, packte den alten Herrn mit dem Rüssel, schleuderte ihn durch die Luft und schmetterte ihn auf den Boden. Der Angriff dauerte fünf Minuten, so Tamrey. Der Schädel seines Vaters brach auf, seine Arme waren verrenkt, Blut trat ihm aus den Augen.
Entlang der Nationalparkgrenze wohnen viele Menschen wie Tamrey, die Geschichten erzählen von tragischen Zusammenstößen mit Elefanten: Da ist Chhanu Man Mahato, ein Mann Anfang 40, der sich vor seiner strohgedeckten Hütte auf einem Plastikstuhl ausruht. Während Entenküken zwischen seinen Füßen über den Lehmboden wuseln, erzählt er, wie Ronaldo vor vier Jahren seine Mutter tötete, mittags, nach dem Essen, als er, Mahato, gerade arbeiten war.
Balaram Chaudhary, der Dschungelführer, der seit 25 Jahren Touristen im Nationalpark begleitet, verlor durch Ronaldo einen Bekannten. Prem Lama verkauft in der Nähe der Aufzuchtstation Cola, Bier und Chips. Der Kioskbesitzer schildert, während er den Gästen Kekse auf weißen Papptellern serviert, wie er mit ansehen musste, als der Elefant seinen Großvater durch die Luft schleuderte und auf dem Boden zerschmetterte. Nachts watet der Elefantenbulle immer wieder durch den Fluss, bricht Prem Lamas Kiosk auf und frisst Chipstüten, zerkaut Bier- und Red-Bull-Dosen, häufig ganze Paletten. Manchmal, sagt Lama, kommen die Chipstüten als Ganzes hinten wieder raus.
Eine Patrouille soll die Menschen vor dem Dschungel schützen - und den Dschungel vor den Menschen
Rund drei Kilometer Luftlinie von Prem Lamas Kiosk entfernt steht eine Baracke auf hohen Betonpfeilern im Wald. Über den Geländern der Veranda hängen militärische Uniformen, Schnellfeuergewehre lehnen an Holzwänden, von denen rote Farbe blättert. Ein Stacheldrahtzaun um das Gelände schützt die Menschen, die Ronaldo schützen: Soldaten der nepalesischen Armee. Ein halbes Dutzend von ihnen sitzt in kurzen Hosen und T-Shirts im Schatten einer Wellblechhütte, vor sich Dal Bhat, Reis mit Linsensuppe. Mehrere Camps mit bewaffneten Soldaten liegen verstreut im Nationalpark und in dessen Pufferzone. Die Aufgabe der Streitkräfte hier: Ronaldo und den Dschungel vor den Menschen beschützen. Und die Menschen vor dem Dschungel.
"Los geht’s", sagt der Sergeant, der anonym bleiben möchte. Uniformen an, Schnellfeuergewehre schultern, vier Magazine mit je 28 Schuss in die Westen: Nach dem Essen starten die Soldaten die erste Patrouille des Tages. Die Sonne schickt gleißende Strahlen durch das Blätterdach, Schweiß rinnt den Rücken hinab. Die Gesichter der Soldaten glänzen, als sie auf einem schmalen Pfad zwischen Farnen und Salbäumen marschieren.
Dumpfe Schläge hallen durch den Dschungel. Der Sergeant packt sein Gewehr. Blätter peitschen auf Oberschenkel, morsche Baumstämme brechen unter den Sohlen schwerer Stiefel, Äste kratzen im Gesicht, als die Soldaten durchs Unterholz brechen. Die Schläge der Äxte kommen mit jedem Schritt näher. Nach einem kurzen Sprint stehen die Soldaten vor einer Gruppe Männer und Frauen mit Reisigbündeln. "Habt ihr eine Genehmigung, Holz zu schlagen?", fragt der Sergeant in die Runde. Brennnesseln gegen Diabetes, Farnspitzen für den Salat, Elefantengras für Hausdächer: In Chitwan nutzen viele Menschen den Dschungel. Ein Teil der schnell wachsenden Bevölkerung Nepals betreibt Subsistenzlandwirtschaft, baut Gemüse, Reis und Früchte für den Eigenbedarf an. Auch die wichtige Ressource Feuerholz sammeln sie im Dschungel.
"Wir haben Angst vor Ronaldo, aber wir brauchen das Holz, um Essen zu kochen", sagt einer der Männer, der in einem löchrigen Hemd auf dem Boden vor dem Sergeant sitzt. Sammeln darf in der Pufferzone des Nationalparks nur, wer, wie der Mann mit löchrigem Hemd, im Monat umgerechnet knapp 40 Cent für eine Genehmigung zahlt. Um 15 Uhr müssen die Sammler raus aus dem Dschungel, sagt der Sergeant und schultert sein Gewehr. "Zu ihrem eigenen Schutz." Asiatische Elefanten ruhen sich tagsüber aus und werden aktiv, wenn die Luft abkühlt. Sammeln Menschen dann noch Holz im Wald, steigt die Gefahr eines tödlichen Zusammenstoßes.
Nachts um vier kam das graue Unheil
60 Prozent der Elefantenangriffe in Nepal ereignen sich nicht in Nationalparks, sondern außerhalb geschützter Gebiete, weniger als 500 Meter vom Dschungelrand entfernt. Sanichar Chaudhary und seine Frau Bhaiji Tharuni verloren durch Ronaldo in jener 500-Meter-Zone ihr Zuhause. Zwischen Mangobäumen, neben einem abgeernteten Reisfeld mit Spuren des Elefanten im Schlamm steht ihre Hütte – oder das, was davon übrig ist.
"Vor vier Tagen war er da", sagt der 70-jährige Chaudhary, ein schmächtiger Mann mit zahnlosem Lächeln und einer Haut rau wie die Rinde der Mangobäume. Er hält einen Gehstock in den Händen und deutet auf die rund vier Meter lange Seitenwand der Hütte, in der ein Loch von der Größe eines Gartentors klafft. Im Innenraum hängt ein Fischernetz von der Decke, daneben Wurzeln und getrocknete Pilze, auf dem grob gezimmerten Tisch liegt eine Tüte Reis, halb leer.
Nachts um vier, so erzählt es Chaudhary, schlug Ronaldo mit seinem Rüssel die Hauswand ein, das Ehepaar lag im Bett – glücklicherweise auf der anderen Seite des Raums. Während Ronaldo mit dem Rüssel nach Nahrungsmitteln suchte, dachten Chaudhary und seine Frau, sie müssten sterben. Nach schier endlosen Minuten der Angst packte Ronaldo zwei Säcke Reis und verschwand.
Seit dem Vorfall wohnen Tharuni und Chaudhary in einem Haus im Nachbardorf. Die beiden möchten zurückziehen in die Hütte mit den Mangobäumen, aber erst, wenn die Mauer repariert ist. Sie liebe jeden einzelnen Baum dort, sagt Tharuni und fügt leise hinzu: "Es ist sehr schwierig, hier am Dschungelrand zu überleben."
Auch Shanti Maya Tamang lebt am Dschungelrand. Die 35-Jährige, rundliches Gesicht, schwarze Haare, dunkle Augen, sitzt auf einem hölzernen Schemel vor ihrem Haus, an den Füßen lila Socken mit gelben Blumen. Sie hält das Bild eines Babys, ihres Sohnes, der auf einem Plastikstuhl vor einem Blumenbeet sitzt, fest in ihren Händen.
Stockend erzählt sie: Abends, es war schon dunkel, stampfte Romeo ins Dorf, ein anderer Elefantenbulle. Tamang war allein zu Hause, ihr Mann im Nachbardorf, um dort gemeinsam mit den anderen Romeo zu vertreiben. Die Mutter trat mit ihrem Sohn in den Armen ins Freie, wollte sich und ihr Kind in Sicherheit bringen. Sie hatte Lebensmittel im Haus gelagert und wusste, dass die dünne Wand aus Lehm einem Elefantenangriff nicht standhalten würde. Kaum war sie vor der Hütte, griff Romeo an. Mit seinem Rüssel packte der Elefantenbulle den Kleinen, riss ihn aus den Armen der Mutter, schleuderte ihn über die Straße. Tamang beugte sich schützend über ihr Kind, Romeo trampelte über sie hinweg und verschwand, ohne die Frau zu berühren.
Nach dem Unglück brachte die Familie ihren Sohn in ein Krankenhaus. Zu spät. Er wurde nur dreieinhalb Monate alt. Sie wischt sich die Wangen trocken, schaut über den Fluss zum Dschungel, klammert ihre Finger um das Bild und drückt es an sich. "Wir haben ihn dort begraben." Tamang deutet in den Wald hinter ihrem Haus. Manchmal, wenn sie Holz sammeln geht, sagt sie, besuche sie das Grab, über das inzwischen Lianen und Sträucher wuchern.
Die menschlichen Schicksale hinter Ronaldos Angriffen füllen eine ganze Excel-Tabelle
"Eigentlich töten Elefanten keine Menschen", sagt Babu Ram Lemichhane, der örtliche Leiter der Naturschutzorganisation National Trust for Nature Conservation. Lemichhane steht in seinem Büro in Sauraha, einem Touristenort an der Nationalparkgrenze. Durch das offene Fenster dringt Vogelgezwitscher und das Hupen von Autos. Auf seinem Schreibtisch aus getöntem Glas ist Ronaldo ein Papierstapel: ausgedruckte Wildtierstudien, Prospekte mit Farbfotografien, eine Excel-Tabelle, die Zusammenstöße mit dem Elefantenbullen auf Zahlen und Buchstaben reduziert. Menschliche Schicksale, in 12 Spalten gepresst, A bis L.
"Geschlecht: männlich. Alter: 14. Saison: Winter. Ort: in der Pufferzone. Aktivität: Vertreibung des Elefanten. Ausgang des Vorfalls: Tod."
"Geschlecht: männlich, Alter: 11. Saison: Winter. Aktivität: Nach draußen gegangen, um die Toilette zu benutzen. Ort: Zu Hause. Ausgang des Vorfalls: Tod."
"Geschlecht: weiblich. Alter: 74. Saison: Winter. Ort: Im Wald. Aktivität: Sammeln von Forstprodukten. Ausgang des Vorfalls: Tod."
Lemichhane sagt: "Sobald Elefanten einmal Menschen angegriffen haben, verlieren sie die Furcht." Ausschlaggebend sei das menschliche Verhalten: Ist der Mensch respektvoll, ist auch der Elefant respektvoll. Wird der Mensch aggressiv, wird auch der Elefant aggressiv. Vertreiben die Menschen die Tiere, etwa weil sie die Ernte oder Lebensmittelvorräte fressen, greifen die Elefanten an. "Die Konflikte werden häufiger und schwerer, weil die Habitate der Tiere abgeschottet sind wie Inseln und ihnen Wanderrouten fehlen", erklärt er. Die Lebensräume sind fragmentiert, auf den Verbindungskorridoren siedeln Menschen und geraten mit den Tieren in Konflikt.
Nepals Bevölkerung wohnt größtenteils auf dem Land, und sie wächst rapide. Auch die Anzahl der Elefanten nimmt zu, "aber die Landfläche bleibt gleich", sagt der Elefanten-Experte Ashok Ram, der bereits mehrere Studien zum Wildtier-Mensch-Konflikt in Nepal veröffentlicht hat. Die Zusammenstöße, so Ram, geschehen häufig, wenn die Elefantenbullen in der Brunft sind. Dann steigt der Testosteronspiegel im Blut der Tiere stark an, die Elefantenbullen sind dann besonders reizbar und aggressiv, legen große Strecken zurück, um Weibchen und Nahrung zu finden.
73 Euro Entschädigung für Ernteschäden, 7300 Euro für die Hinterbliebenen bei tödlichen Zusammenstößen
Umsiedlungen, Elektrozäune, Mauern – in Nepal gibt es viele Versuche, um den Konflikt zwischen Elefanten und Menschen zu entschärfen. Sunbahadur Tanang steht auf einer Wiese und rüttelt an einer Lösung, die keine mehr ist: Der Pfosten, an dem mehrere Drähte befestigt sind, liegt fast auf dem Boden.
Es ist sieben Uhr morgens, Dunst zieht über den Fluss Rapti, die Luft riecht nach Holzfeuer und Kuhdung. Tanang trägt ein dunkles Hemd, eine Baseballkappe und einen Bambusstock. Tautropfen bilden kleine Pfützen auf seinen Gummistiefeln. Dreimal täglich kontrolliert der Wildhüter den vier Kilometer langen Elektrozaun, der die Gemeinde Badreni umgibt, an der Grenze zum Nationalpark.
Die Drähte sollen das Dorf schützen, vor Nashörnern, Wildschweinen oder Elefanten – mit überschaubarem Erfolg: "Ronaldo reißt die Pfosten einfach mit dem Rüssel raus oder drückt sie um", sagt Tanang und deutet auf einen umgeworfenen Pfahl. Beinahe jeden dritten Tag finde er umgeknickte Pfosten, Löcher im Zaun oder Maschendraht, der im Schlamm liegt.
"So könnte es gehen", sagt Tanang und zeigt auf eine 1,60 Meter hohe, weiß verputzte Mauer aus Betonsteinen. Seit Jahren baut die Gemeinde daran, um ihr Dorf zu schützen. Allerdings sei diese Lösung sehr teuer – und habe einen großen Nachteil: "Während der Monsunzeit ist hier alles überschwemmt. Dann stellen wir sogar den Strom ab. Die Mauer, wenn wir sie einmal komplett um das Dorf bauen, hält das Wasser in der Gemeinde wie in einem Swimmingpool." Außerdem können auch die Betonsteine Ronaldo kaum aufhalten: Bereits dreimal habe er die Mauer weiter unten am Fluss durchbrochen und sei ins Dorf marschiert.
Die Regierung Nepals versucht dem Mensch-Wildtier-Konflikt in Chitwan auch mit Geld entgegenzuwirken: Ein staatlich finanzierter Hilfsfonds unterstützt Betroffene, um die Schäden zu mildern. Das Problem: Fressen Wildtiere die Saat von den Feldern oder beschädigen sie bei der Nahrungssuche Eigentum, bekommen die Anwohnerinnen und Anwohner nicht die tatsächliche Schadenssumme ersetzt, sondern lediglich festgelegte Beträge ausbezahlt: Umgerechnet maximal 73 Euro für Ernteschäden, 1500 Euro bei Verletzungen und 7300 Euro für die Hinterbliebenen bei tödlichen Zusammenstößen. Ist der Schaden höher, müssen Betroffene die Differenz selbst tragen. Und: Die Bearbeitung dauert häufig mehrere Monate, Geschädigte müssen zahlreiche Unterlagen einreichen. Wer keine Papiere besitzt, bekommt kein oder weniger Geld.
So wie Sanichar Chaudhary und Bhaiji Tharuni: Ihre Hütte mit den Mangobäumen war nicht offiziell registriert, das Ehepaar blieb auf dem Schaden sitzen, den Ronaldo verursachte – bereits zum zweiten Mal. Vor einem Jahr, so erzählt es Chaudhary, zerstörte der Elefantenbulle die Küche. Mit seinen Ersparnissen konnte er sie damals wieder aufbauen. Nun wisse er aber nicht, wie er mit umgerechnet 36 Euro Rente im Monat sein Zuhause erneut reparieren solle.
Der Respekt hier vor den Tieren ist groß, "selbst wenn sie deinen Bruder töten"
Eine Mauer zu schwach, die Zäune anfällig, die Hilfszahlungen unzureichend: Warum wird Ronaldo nicht getötet? Während Deutschland über den Abschuss von Wölfen oder Bären diskutiert, obwohl es seit der Rückkehr der Tiere hierzulande keinen einzigen Angriff auf Menschen gab, läuft ein Killerelefant weitgehend unbehelligt durch Nepal. "Das ist der große kulturelle Unterschied", sagt Babu Ram Lemichhane, der den Papierhaufen Ronaldo verwaltet und inzwischen auf seinem Bürostuhl hinter dem Tisch mit den getönten Glasscheiben Platz genommen hat. "Elefanten gelten in Nepal als heilig."
Etwa 80 Prozent der Einwohner des Landes bekennen sich zum Hinduismus. Ganesha, der Gott mit Elefantenkopf, wird von vielen verehrt. Tötet ein Elefant einen Menschen, dann sei das nicht die Schuld des Tieres, sondern Vorbestimmung. "Außerdem", sagt Lemichhane, "wenn wir Ronaldo erschießen, kommt der nächste Bulle. Wie viele Elefanten wollen wir umbringen?" Der Respekt hier vor den Tieren sei groß, "selbst wenn sie deinen Bruder töten".
Verschiedene Maßnahmen miteinander zu verschränken, das sei die einzige Möglichkeit, um den Konflikt zwischen Elefanten und Menschen zu lösen, sagt der Experte Ashok Ram. Schutzvorkehrungen wie Zäune und Mauern seien nur kurzfristige Lösungen, mittelfristig müsse man durch Aufklärung über den richtigen Umgang mit Wildtieren sowie mit vollen und sofortigen Kompensationszahlungen ein langfristiges Ziel erreichen: "Eine Umgebung für eine friedliche Koexistenz schaffen", so Ram. Man müsse den Leuten klarmachen, warum die Elefanten gebraucht werden. Neben ihrer kulturellen und identitätsstiftenden Funktion sind die Tiere in Nepal auch ein Wirtschaftsfaktor: Unter anderem um Elefanten in freier Wildbahn sehen zu können, kommen Touristen in den Chitwan-Nationalpark. Und Touristen bringen Geld.
Wer hat Angst vorm Wolf?
In Deutschland gibt es keine wild lebenden Elefanten und kaum Subsistenzlandwirtschaft, Mensch und Natur haben sich weiter auseinandergelebt als in Nepal. Können wir trotzdem etwas von den Menschen dort lernen, im Umgang mit Wildtieren?
Ja, sagt Arnulf Köhncke, Artenschutzexperte beim World Wide Fund for Nature (WWF) Deutschland. Der Ökologe sitzt im "Top of the World Coffee" im Süden der nepalesischen Hauptstadt Kathmandu, an den Wänden hängen Bilder mit verschneiten Gipfeln und Bergketten im Morgenlicht, Apfeltörtchen liegen hinter Glasscheiben, auf den Couchtischen stehen Tassen mit kleinen Zuckertüten.
Aufklärung, Prävention und Unterstützung sei auch in Deutschland der richtige Weg, um mehr Akzeptanz für wilde Tiere zu schaffen, sagt Köhncke. In Zukunft erwartet er sonst eine Zunahme von Konflikten, "wenn wir nicht mehr tun". Gemeinsam mit den beteiligten Menschen müssten Behörden frühzeitig Akzeptanz- und Präventionsmaßnahmen schaffen, schon jetzt, während die Bestände von Wolf, Luchs und Elch, zukünftig hoffentlich auch vom Wisent, in Deutschland weiter zunehmen.
"Wir müssen die Menschen aufklären: Wie verhalte ich mich, wenn ich einem Elch begegne?", erklärt Köhncke. Die Akzeptanz der Menschen in Nepal beruhe auf einer langen Auseinandersetzung, die Leute seien es gewohnt, Wildtieren gegenüberzustehen.
Lernen könnten wir von ihnen vielleicht eine positive Einstellung zur Natur.