Wasserski auf Gletschereis

365 Tage im Jahr Schneespaß – das verspricht das Skigebiet Hintertuxer Gletscher, Österreichs einziges Ganzjahresskigebiet. Die Realität sieht anders aus.

Text und Bild: Merlin Gröber

Erschienen in ZEIT am Wochenende 32/2022

Ein Sessellift führt über schneebefreite Hänge auf den Hintertuxer Gletscher © Merlin Gröber

Hinter der zweiten Gletscherspalte schwappt das Wasser zum ersten Mal in den Skischuh. Es ist 13 Uhr, die Sonne brennt an diesem Julitag viel zu heiß vom Himmel auf das trübe Gletschereis, das unter den Skiern knirscht. Rinnsale bahnen sich ihren Weg zwischen Rillen voller Dreck, verschwinden in Spalten, die weit auseinanderklaffen. Ohne griffigen Schnee schlittern die Ski haltlos übers Eis, rutschen durch Wasserlachen und kratzen über Stein. Es fühlt sich an wie Schlittschuhfahren am Steilhang, im Kopf hämmert nur ein Gedanke: nicht hinfallen. Wer hier stürzt, knallt auf einen Untergrund hart wie Beton. Noch ein Schwung, dann ist auch der zweite Schuh nass.

Ski fahren im Sommer ist in den Alpen eigentlich nichts Neues. Besonders hoch gelegene Gebiete lassen ihre Liftanlagen das ganze Jahr über laufen – normalerweise. Inzwischen musste der erste Betreiber vor dem warmen Sommer kapitulieren: Die Anlagen im höchstgelegenen Ganzjahresskigebiet Europas auf dem Theodulgletscher südlich von Zermatt, stehen still – zu viel Sonne, zu wenig Schnee. Der Betrieb am Hintertuxer Gletscher in Tirol indes geht weiter. Seilbahnen befördern Skifahrer und Snowboarderinnen in die Höhe. Und das, obwohl kaum Schnee liegt. Trotzdem brettern sie auf hartem Eis durch Pfützen und Gräben Richtung Tal. Warum tut man sich das an? Und viel wichtiger: Was tut man damit dem Gletscher an?

Mehr Rinnsal als Piste: Skifahren im Sommer auf dem Hintertuxer Gletscher © Merlin Gröber

"Bist du sicher, dass du da hochwillst?". Fragend blickt Milan Magerko vom Tresen auf. Magerko verleiht Ausrüstung an Menschen, die Ski fahren wollen, wenn alle anderen den Winter längst vergessen haben. Hinter ihm in einem Sportgeschäft an der Talstation der Hintertuxer Gletscherbahn, stehen gefütterte Stiefel aus schwarzem Plastik und Ski mit stählernen Kanten, die im Neonlicht glänzen. Vor den Schaufenstern tragen Wanderer in kurzen Hosen und T-Shirts bunte Rucksäcke zum Eingangstor der Bergbahn. "Der Schnee auf dem Gletscher ist sehr nass", sagt Magerko. "Wenn du trotzdem hochwillst: Hier ist die Ausrüstung". Magerko stellt ein Paar Ski mit glänzenden Stahlkanten und Stiefel auf den Tresen. "Die meisten da oben sind Profis, kaum einer fährt bei den Konditionen freiwillig Ski", sagt er.

Cathrin Lynch, roter Anorak, schwarze Skibrille, lange Ski, ist freiwillig am Berg. Die 46-Jährige steht an der Bergstation und erzählt, wie sie mit der Familie aus Colorado angereist ist, damit die Kinder richtig Skifahren lernen. "Eigentlich wollten wir drei Wochen bleiben, aber die Verhältnisse sind so schlecht, wir bleiben nur eine", sagt sie. Aus den USA nach Österreich fliegen zum Skifahren lernen? "Ich weiß, das ist nicht gut. Aber ich möchte, dass meine Kinder die schöne Art Ski fahren lernen, die hier in Österreich unterrichtet wird. Das bekommen sie in den USA nicht". Auch, das betont Lynch, sei ihr der internationale Austausch wichtig: "Im Kurs meiner Söhne sind Kinder aus Korea, Russland und Italien. Diesen internationalen Austausch am Berg, den gibt es in Colorado nicht". Auf ihrem Smartphone zeigt Lynch, wie der Gletscher bei ihrem letzten Besuch aussah: Weißer Schnee auf der Piste und den umliegenden Gipfeln. Weil sie gesehen habe, wie schlecht es inzwischen um das Eis steht, habe sie entschieden, ein Elektroauto zu kaufen, erklärt Lynch. "Außerdem kommen Solarpanels aufs Dach". Und fürs sommerliche Skifahren möchte sie nach Alternativen suchen: "Wir finden eine andere Tätigkeit, die den Kindern Spaß macht und den interkulturellen Austausch fördert."

Jasmin Duregger, die Klima- und Energieexpertin bei Greenpeace, würde das sicherlich begrüßen. Sie kritisiert das sommerliche Skifahren. Duregger postete vor Kurzem ein Twitter-Video, das Skifahrer auf der wässrigen Piste des Hintertuxer Gletschers zeigt. "Das Video ist ein Symbolbild, wie wir die Natur bis zum Anschlag ausnutzen", sagt sie. Es zeige, wie weit die Klimakrise inzwischen fortgeschritten sei. "Niemand hat etwas dagegen, dass Skitourismus angeboten wird", sagt sie. "Aber nur zur richtigen Jahreszeit". Für Duregger sei es schwer nachvollziehbar, dass Menschen im Sommer auf Gletschern Ski fahren. "Solange wir noch Zeit haben, müssen wir die Treibhausgase reduzieren. Sommerskifahren hilft dabei nicht". Das schade dem Klima und damit schlussendlich den Skigebieten selbst. Daher sollten neben den Skitouristen vor allem auch die Liftbetreiber interessiert daran sein, CO₂ einzusparen: "Die verdienen mit dem Skitourismus schließlich ihr Geld".

Der Schnee reicht gerade so für die Abfahrt. © Merlin Gröber

Ein paar Meter von Lynch entfernt, neben weißen Filzplanen und roten Pistenraupen, fahren Anita Sageder und Stephan Hox durch den sulzigen Schnee. Hox kommt aus Norddeutschland, ist zweiter Stadionsprecher beim Fußballverein Hannover 96 und fährt seit 25 Jahren Ski. "Im Winter meistens in Sölden", sagt er, "im Sommer gerne auf dem Hintertuxer Gletscher" Für den 46-Jährigen ist das Skifahren in den Sommermonaten ein "Lebensqualitätsindikator": "Sowas kann nicht jeder machen". Schlechtes Gewissen habe er keins. "Jeder Mountainbiker und Wanderer macht die Natur genauso kaputt", sagt Hox. Sageder nickt und fügt hinzu: "Der Gletscher baut sich auch ohne Skifahrer ab". Lange, da sind sich beide einig, werden sie im Sommer nicht mehr herkommen können. Vor drei Jahren hätten sie verschneite Gipfelfotos gemacht, "da war alles weiß, da drüben", sagt Hox und deutet mit dem Stock auf den gegenüberliegenden Berg, an dessen Flanken graue Felsen in den Himmel ragen. "Ich denke in spätestens fünf Jahren ist Schluss mit Sommerskifahren auf dem Gletscher."

Christian Abenthung, der Geschäftsführer des Tiroler Skilehrerverbands, versteht die Aufregung ums Sommerskifahren nicht: "Warum sollen wir keine Kurse anbieten, wenn die Lifte laufen?", erklärt er am Telefon. Seit 30 Jahren bildet der Verband im Sommer Skilehrer auf dem Hintertuxer Gletscher aus. Aufgeregt habe sich bisher niemand. "Warum ausgerechnet jetzt?", fragt er. Die aktuellen Konditionen seien ungewöhnlich, ja, "aber im alpinen Raum ändert sich das Wetter schnell". In ein paar Tagen könnte bereits Neuschnee fallen. Allerdings räumt Abenthung ein: "So schlecht waren die Bedingungen noch nie". Trotzdem wolle der Verband weiter Sommerkurse anbieten: "Wir werden nicht zugrunde gehen, wenn es keinen Gletscherskilauf mehr gibt, aber solange es ihn noch gibt und das Skifahren sicher ist, werden wir weiter machen". Die Sommerkurse, so Abenthung, seien wichtig für Schülerinnen und Studierende, die vor allem im Sommer Zeit haben und den Winter darauf direkt anfangen wollen zu arbeiten.

Gondeln über Geröll: Weite Teile des Berges auf dem Weg zum Gipfel sind schneefrei. © Merlin Gröber

Zwei, die nur im Sommer Zeit haben, sind Madelief und Femke. Die beiden Holländerinnen sitzen in der Gondel der Hintertuxer Gletscherbahn, auf den Knien Rucksäcke mit Skischuhen, in den Händen Stöcke, während von draußen die Nachtmittagssonne gegen die Plexiglasscheiben brennt. "Wir hatten heute unsere Skilehrerprüfung", sagt Femke. Dass sie im Sommer hier sind, hat einen einfachen Grund: "Ich kann die Kurse nicht im Winter machen, da bin ich an der Uni". Also kam sie im Sommer. Zehn Tage lang übten die Frauen verschiedene Fahrstile und lernten Theorie. Überrascht sind die Beiden von der Geschwindigkeit, in der sich der Gletscher verschlechtert: "Als wir ankamen lag noch 90 Zentimeter Schnee auf dem Gipfel. Jetzt sind es noch 20", so Madelief. Weil so wenig Schnee liegt, sei ein Kursteilnehmer sogar in eine Gletscherspalte gefallen, konnte sich aber festhalten und von den Ausbildern herausgezogen werden. Anstrengend sei der Kurs gewesen, viele seien durch das harte Eis an die Belastungsgrenze gekommen. Im Sommer wollen die beiden nicht wiederkommen: "Das tut dem Gletscher sicher nicht gut", sagt Madelief.

Aber wie schädlich ist es nun wirklich, das Skifahren auf dem Gletscher im Sommer? Für Georg Kaser, emeritierter Professor am Institut für Atmosphären- und Kryosphärenwissenschaften der Universität Innsbruck, greift die Diskussion über das Sommerskifahren zu kurz: "Das Problem sind nicht die Skifahrer auf dem Gletscher", sagt Kaser. "So viele bekommen sie davon gar nicht auf die Piste, damit die das Eis ernsthaft gefährden". Viel mehr lenke die Diskussion übers Sommerskifahren vom eigentlichen Problem ab: die An- und Abreise sowie die Unterbringung der Touristen in den Destinationen. Auch die Bautätigkeiten seien unter anderem durch den Sprit- und Ressourcenverbrauch problematisch. All das sei viel verheerender für die Umwelt. "Es kann nicht sein, dass die Leute mit ihren Autos individuell anreisen", so Kaser. Abends gäbe es Salat mit Schrimps oder Fleischgerichte in der Unterkunft: "All das verursacht Unmengen an CO₂." Eine Lösung: "Wir müssen weg von der individuellen Mobilität." Hier seien auch die Liftbetreiber in der Pflicht: "Es braucht mehr Kooperationen der Touristiker mit Bus- und Zugunternehmen." Auch die Unterkünfte müssten Umdenken: hin zu vegetarischer und, soweit möglich, regionaler Küche.

Auf dem Gipfel selbst liegt kaum Schnee. © Merlin Gröber

Die aktuelle Situation am Gletscher, so Kaser, sei das Resultat eines extremen Jahres in einer Reihe immer schlechter werdenden Jahre: Die aktuellen Hitzewellen gepaart mit dem mangelnden Niederschlag im Herbst und Winter setzten dem ohnehin kranken Gletscher weiter zu. "Das ist wie beim Menschen: Ein gesunder Mensch kann einer Grippe leichter widerstehen als jemand, der bereits angeschlagen ist." Zwar habe es bereits in der Vergangenheit heiße Jahre gegeben, wie etwa 2003. Zu dieser Zeit sei der Gletscher aber noch intakter gewesen. "Heiße Jahre werden sich immer stärker auf den kranken Gletscher auswirken". In 20 bis 30 Jahren, prognostiziert Kaser, werden alle Gletscher in den Ostalpen verschwunden sein – ob mit oder ohne Sommerskifahrer. Schuld an der Situation sei der vom Menschen verursachte Klimawandel. "Da brauchen wir nicht diskutieren."

Zurück auf dem Gletscher nähere ich mich der Mittelstation mit zwei vollkommen durchnässten Skischuhen. Unter den Skiern plätschert ein kleiner Bach, der in einer Gletscherspalte verschwindet, ein lauwarmer Wind weht vom Tal hinauf, das in der Ferne grün in der Nachtmittagssonne schimmert. Als ich die Mittelstation erreiche ist Schluss: Saftige Wiesen lösen den matschigen Schnee ab, hier ist endgültig Sommer. Jacke aus, Mütze weg, Ski abschnallen. Das nasse Futter der Schuhe klebt an den Socken, die Knie brennen vom Fahren auf dem harten Eis und ich bin mir ganz sicher: Bis zum Winter bleiben die Ski im Schrank.