Unterwegs auf dem Annapurna Circuit

Der Pfad unterhalb des Annapurna-Massivs führt zum 4912 Meter hoch gelegenen Tilicho Lake, einem der höchst gelegenen Seen der Welt. © Merlin Gröber

Der Annapurna Circuit im nepalesischen Himalaya gilt als eine der schönsten Fernwanderungen der Erde. Unser Autor wollte ihn eigentlich ganz allein gehen. Doch daraus wurde nichts - zum Glück

Text und Foto: Merlin Gröber

Wer um sechs Uhr morgens in 5000 Meter Höhe durch den Schnee stapft und nach Luft ringt, ist froh, nicht allein zu sein. Ich stehe unterhalb des Thorong La, eines Passes im nepalesischen Teil des Himalayas, vor den Augen tanzt der Lichtkegel der Stirnlampe, verschneite Gipfel ragen in den Morgenhimmel. Außer dem Klappern der Wanderstöcke und dem Knirschen der Schuhsolen auf dem vereisten Schnee ist nichts zu hören. Ich atme tief ein, bleibe stehen und spüre, wie mir jemand auf die Schulter klopft. "Wir haben es fast geschafft, mein Freund, bald sind wir oben." Es ist Malween, ein Franzose, erst vor zwei Wochen haben wir uns kennengelernt. Ich nicke, atme noch einmal tief ein, dann gehen wir weiter.

Das Erste, was ich von Malween am Flughafen von Kathmandu, der Hauptstadt Nepals, gesehen habe, sind seine Locken. Ein Dutzend Backpacker schleppte Rucksäcke durch die Empfangshalle. Einer von ihnen war: Malween. Breite Schultern, dunkle Lockenmähne. "Warum bist du in Nepal?", fragt der Franzose. "Annapurna Circuit", antworte ich. "Dito", sagt Malween und grinst. "Lass uns zusammen gehen." Kurz überlege ich, dann nicke ich. "Warum nicht." Noch in der Schlange der Zollkontrolle, während nepalesische Beamte unsere Pässe stempeln, schließe ich eine erste Reisefreundschaft. So war das.

Ich wollte allein sein. Rucksack packen, in den Flieger steigen und wochenlang einsam durch die Natur marschieren, danach Bart rasieren, wieder nach Hause fliegen und mit Freunden auf die Heimkehr anstoßen. Natur genieße ich am liebsten ohne Begleitung – Menschen stören nur die Ruhe. Der "Annapurna Circuit" war dafür die ideale Tour. Die rund 230 Kilometer lange Wanderung umrundet den 8091 Meter hohen Annapurna, den zehnthöchsten Berg der Erde, und gilt als eine der schönsten Touren überhaupt. Sie führt durch weite Flusstäler, auch über einen 5400 Meter hohen Pass und durchquert, außer den Tropen, alle Klimazonen des Planeten.

"Was für ein wunderbares Chaos", sagt Malween und blickt aus dem Fenster. Mit unseren frisch gestempelten Pässen sitzen wir in einem Taxi, das sich vom Flughafen hupend seinen Weg vorbei an Rollern und Motorrädern Richtung Stadt bahnt. Die Sonne scheint auf das Autodach, die Luft riecht nach heißem Asphalt, Rauch und Smog. Kleine Läden, vollgepackt mit Jacken, Rucksäcken und Wanderschuhen, reihen sich an Restaurants und Metzgereien, in denen ausgenommene Hühner und Ziegenköpfe auf Holzbrettern liegen.

Hauptsache, es fährt. Zwei junge Männer auf ihrem Moped in der Altstadt von Kathmandu. © Merlin Gröber

Ein Junge spielt vor einem Hauseingang in der Nähe des Azan Bazars in Kathmandu

Drei Tage lassen Malween und ich uns durch die nepalesische Hauptstadt treiben. Bevor wir gemeinsam durch den Himalaya wandern, wollen wir uns besser kennenlernen. Das Zusammenreisen, gerade unter den fordernden Umständen einer Fernwanderung in einem fremden Land, hat schon langjährige Freundschaften zerbrechen lassen. Wie wird das erst sein, wenn man sich kaum kennt? 17 Jahre lang war Malween Soldat bei der französischen Luftwaffe, seit drei Jahren reist der 41-Jährige nun um die Welt. Der Annapurna Circuit ist für ihn ein Punkt auf einer langen Liste von Reisezielen, die er abhaken möchte. Ich bin eher der genügsamere Genusstyp, fit, war aber nie bei der Armee – ganz im Gegenteil: Statt bei der Bundeswehr war ich neun Monate in einem katholischen Kindergarten. Die ideale Reisebegleitung sieht anders aus.

Pokhara ist sowohl Start als auch Ende der langen Wanderung – hier mit Blick auf Machapucharé-Spitze und Annapurna III © Merlin Gröber

Um sieben Uhr morgens am vierten Tag hämmert ein Technoremix von Shakira aus übersteuerten Autoboxen. Malween und ich sitzen eng aneinandergepresst, die Rucksäcke auf den Knien, in einem Mikrobus, einem der zahlreichen Vans, die in Nepal Städte und Dörfer miteinander verbinden. Stundenlang holpern wir nach Pokhara, der zweitgrößten Stadt Nepals, die Ausgangspunkt für Wanderungen um das Annapurna-Massiv ist. Auf der Veranda unseres Hostels lernen wir Flurin kennen, einen Outdoor-Guide aus der Schweiz. Ein Stück des Annapurna Circuit möchte er mit dem Motorrad fahren, auf einer Schotterpiste, die in der Nähe des Wanderwegs verläuft. Zu dritt teilen wir uns, in einfachen Hostels üblich, ein Zimmer und ein paar Flaschen Bier, dann gehört Flurin zu unserer informellen Reisegruppe. Abends gesellt sich Margarethe zu uns, die sich aus "zukünftiger Planlosigkeit und aufkeimender Reiselust" in den Flieger gesetzt hat, wie sie uns später erzählt, und spontan entscheidet, auf Flurins Motorrad mitzufahren. Bevor wir einen Fuß auf den Trail gesetzt haben, sind wir zu viert.

Der Wunsch, sich in der Fremde Vertrautem zuzuwenden, und die Freude, gemeinsam Neues zu erleben, scheint unsere kleine Wandergruppe wie von allein zu formen. Weit weg von zu Hause sehnen wir uns offensichtlich nach etwas, was wir in der heimatlichen Natur gern meiden: die Nähe zu anderen Menschen, die im Meer unbekannter Eindrücke, die unentwegt und ungefiltert auf uns zuströmen, zu sicheren Inseln werden sollen. Selbst auf Alpenfernwanderwegen entstehen Gemeinschaften, die von Tag zu Tag, Hütte zu Hütte mehr zusammenwachsen. In der wilden nepalesischen Bergnatur scheint die Sehnsucht, das Erlebte mit jemandem zu teilen, noch größer zu sein.

Zum Frühstück gibt es – gewöhnungsbedürftig – Knoblauchsuppe. Hilft angeblich gegen Höhenkrankheit © Merlin Gröber

Am Tilicho Lake: Die bunt zusammengewürfelte Wandergruppe ist immer mehr zusammengerückt  © Merlin Gröber

Sonnenaufgang auf dem Poon-Hill-Aussichtspunkt © Merlin Gröber

Während Flurin und Margarethe in Pokhara ein Motorrad suchen, starten Malween und ich den Annapurna Circuit in Bhulbhule. Um zwei Uhr nachmittags erreichen wir die Ortschaft mit einem Mikrobus, steigen aus und tauchen ein in eine Welt hinter Farbfiltern: Das Grün der Bäume scheint in der glasklaren Bergluft grüner als gewohnt, der Himmel blauer, der Marsyangdi-Fluss klarer. Keine Wolke schiebt sich vor die Sonne, bereits nach wenigen Schritten läuft uns Schweiß über das Gesicht. Spinnen mit schwarzen Beinen und rot-gelben Körpern hängen in großen Netzen über einem Bachlauf. Das lautstarke Zirpen der Zikaden sirrt überall. Farne und Palmwedel wuchern an tief zerfurchten Hängen am Flussufer.

Bereits um vier Uhr nachmittags verschwindet die Sonne hinter den Berghängen, blauer Nebel steigt vom Ufer des Flusses empor, kühler Wind weht durch das Tal und trocknet unseren Schweiß. Wir übernachten in Bahundanda, einer Siedlung an einem Berghang mit Reisfeldern, die sich wie gigantische Treppenstufen an den Fels schmiegen. Vor beinahe jeder Hütte steht ein Schild, das zum Essen, Schlafen oder Teetrinken einlädt. Das "Mountain View Hotel" ist ein typisches Gästehaus mit großer Terrasse, von der man auf die umliegenden Berggipfel blickt, unser Zimmer ein einfacher Bretterverschlag mit Bambusmatten auf dem Boden. Das Quartier hat Malween ausgesucht. Er maschiert schneller als ich. Jeden Tag genieße ich es mehr, nicht alle Entscheidungen allein treffen zu müssen. Durch Malween finde ich mehr Zeit und Ruhe, da ich weiß, dass irgendwo weiter vorn jemand mit Tee und Suppe in einer einfachen, aber gemütlichen Unterkunft wartet.

Einen Schlafplatz zu finden, ist auf dem Annapurna Circuit kein Problem, die Menschen vor Ort haben sich auf Tourismus eingestellt: Zelt, Kocher und Verpflegung braucht niemand mitzuschleppen. Die Gastgeberinnen und Gastgeber servieren häufig das, was in ihren Gärten an den Berghängen wächst. Reis, Spinat und Linsen, Kartoffeln und Gemüse.

Am zweiten Tag finden Malween und ich unsere Routine, als würden wir seit Jahren gemeinsam wandern: 6.30 Uhr aufstehen, zusammenpacken, Frühstück (es gibt Knoblauchsuppe und Ingwertee, "gut gegen die Höhenkrankheit", behauptet Malween), Jacken anziehen, losgehen. Nach fast zwei Jahrzehnten beim Militär kennt Malween sich bestens aus in den Bergen. "Steige nicht zu schnell auf", sagt er. "Trinke viel, übernachte unterhalb deiner maximalen Tageshöhe und: Lass die Tabletten gegen Höhenkrankheit weg." Diese würden nur die ersten Anzeichen der Krankheit verschleiern und das Blut verdünnen, sodass man sich in falscher Sicherheit wähne. Die ersten Stunden eines Tages wandern wir immer gemeinsam, reden, genießen, dann geht jeder sein eigenes Tempo, so wie es auf einem Fernwanderweg am besten ist. Mittags treffen wir uns in einer Gaststätte wieder, einfache Hütten mit Wellblechdächern, essen Dal Bhat, Reis mit Linsensuppe, trinken Ingwertee und marschieren weiter.

Unter besonderem Schutz verläuft der Weg von Thorong Phedi ins High Camp: Der Wind trägt die Mantras der Gebetsfahnen mit sich © Merlin Gröber

Vier Tage wird auch in den Dörfern des Annapurna Circuit das hinduistische Tihar-Festival gefeiert © Merlin Gröber

Früh morgens werden in Manang, einer Ortschaft auf 3530 Metern Höhe, Kräuter verbrannt. © Merlin Gröber

Am Abend des zweiten Tages kommen wir in Tal an, einer Ortschaft, die auf einer breiten Ebene am Ufer des Marsyangdi liegt. Hinter den Häusern des Dorfes ragen senkrecht die Felswände der umliegenden Berge auf, nur eine Schotterstraße führt in den Ortskern. In Tal stoßen Flurin und Margarethe wieder zu uns. Die beiden haben ein Motorrad gefunden, stabil genug für die Piste. Viel schneller als wir sind sie aber nicht, so holprig ist die Straße.

In Tal bewirtet uns Roshni, eine Frau mit hoher Stirn und kräftigen Armen, die uns freundlich empfängt. Sie serviert Tee. Roshni steht in ihrer offenen Küche, Dorfbewohner wärmen sich an den Flammen ihres Herdes und nicken freundlich. Als vor fünf Monaten der Fluss über seine Ufer trat und große Teile des Dorfes einfach mit sich riss, war Roshnis Haus eines der wenigen, das stehen geblieben ist. Umgekommen sei zum Glück niemand, sagt Roshni. Nur ihre 17 Hühner, die hätte es weggeschwemmt. Trotz des Unglücks habe sie nie daran gedacht, weg‑zuziehen. "Wir sind alle noch am Leben. Alles wird gut."

Je höher wir steigen, desto kälter wird die Luft, Frost legt sich nachts wie Puderzucker auf das Manang-Tal, eine breite Ebene mit Schottersteinen und kargem Bewuchs. Mit jedem Höhenmeter weicht das bisschen Grün aus der Landschaft. Trockene Kiefernwälder verdrängen die dichten Wälder mit Bambusbäumen und Farnen hinter der Ortschaft Manang. In 3500 Meter Höhe wachsen nur noch harte Gräser und Büsche mit spitzen Dornen. Die schneebedeckten Gipfel rücken näher, gewaltige Bergkuppen, deren Spitzen man nur erkennen kann, wenn man den Kopf in den Nacken legt.

Wir überholen eine kleine Reisegruppe. Ram aus Langtang führt ein paar Israelis auf dem Circuit. Trotz 100 Umrundungen langweile ihn die Landschaft nie. "Der Berg ändert ständig sein Gesicht", sagt er. Im Schatten einer Kiefer, an unserem nächsten Rastplatz, lernen wir die Nepalesen Monu und Sagun kennen. Auch sie erzählen ihre Geschichte: Monu hat sein Studium beendet und will auf dem Annapurna Circuit herausfinden, was er in seinem Leben machen möchte. Sagun begleitet ihn, für ihn als Nepalese ist der Annapurna Circuit ein "Must-do".

Die meisten Begegnungen sind flüchtige Wortwechsel am Wegesrand, aus anderen Gesprächen bilden sich neue Reisebekanntschaften. Der Annapurna Circuit wirkt wie ein Magnet, die Tischrunden am Abend werden größer. Wichtigster Kitt: der Weg natürlich. Und gemeinsame Interessen. So wie mit Jan. Der Schweizer steht abends auf den Treppenstufen einer Herberge in Tanchok, im Rucksack zwei schwere Profikameras. "Ich mache gern gute Fotos", sagt er und lacht. Auch Luc lerne ich in Tanchok kennen, der Antiquitätenhändler kommt aus Paris, verrät uns die interessantesten Wanderwege Frankreichs und marschiert mit Malween voraus, während Jan und ich hinterherschlendern und Fotos schießen. Flurin und Margarethe, die ihr Motorrad zurücklassen mussten, weil ein Erdrutsch den Weg versperrte, sind auch schon unterwegs.

Der Höhepunkt: Die ausgelassene Stimmung am Thorong-La-Pass liegt nicht nur an der dünnen Luft auf 5416 Metern © Merlin Gröber

Der härteste Tag der Wanderung beginnt um fünf Uhr morgens: die Überquerung des 5400 Meter hohen Thorong-La-Passes. Der Schädel hämmert, die Höhe zehrt, draußen ist es dunkel, schemenhaft schimmern die Berggipfel in der Dunkelheit. Zu sechst brechen wir auf, trotten über vereisten Schnee und ringen nach Luft. Bald geht jeder sein eigenes Tempo, gefangen in seinen Gedanken, während um uns herum die Bergwelt erwacht.

Nach zwei Stunden kriecht die Sonne hinter den Bergen hervor, der Pass rückt in Sichtweite. Wir sind oben. Schnee tanzt um unsere Schuhe, als wir gemeinsam auf dem Pass stehen und die Sonne unsere Gesichter wärmt.

Wäre ich allein losgezogen, hätte ich die Höhe vielleicht gar nicht geschafft, wäre ich ohne Malween, der mir auf die Schultern klopft und sagt, das alles gut wird, obwohl die Luft so dünn ist. Ich könnte Jan, Flurin und Margarethe nicht umarmen unter den Gebetsfahnen, die an der Passhöhe wehen, erlöst und glücklich, dass das Schwierigste hinter uns liegt. Und Luc beglückwünschen, der sich die letzten Meter hochgekämpft hat. Allein wäre dieser Moment nur halb so schön.

Erschienen in GEO Saison 7/2022